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Samstag, 21. April 2018

Ida

Ein Film von Paweł Pawlikowski





1/ DER REGISSEUR



Paweł Pawlikowski, der Regisseur von Ida, 1957 in Warschau geboren, begleitet seine Mutter im Alter von 14 Jahren nach Westeuropa. Erst dort erfuhr er, dass es sich nicht um eine Reise handelte, sondern um ein Exil, und gleichzeitig von der Trennung seiner Eltern. Eine katholische Familie mit einer jüdischen Geschichte, von der er erst als Erwachsener und durch einen Zufall erfuhr: die Großmutter väterlicherseits war jüdisch und wie einige Angehörige in Auschwitz ermordet worden. Sein Vater habe nie davon gesprochen. 
Das Script für Ida schrieb er gemeinsam mit  Rebecca Lenkiewicz, einer 1968 geborenen englischen Theaterautorin, die auch die Stieftochter von Robert Lenkiewicz ist, einem 2002 gestorbenen inspirierten und streitbaren Maler, 1941 als Sohn jüdischer Emigranten geboren, die eine von vielen aus Osteuropa emigrierten Juden bewohnte Pension in London betrieben. Robert Lienkiewicz wurde als Maler bekannt, der in Plymouth viel später wiederum eine Art Pension betrieb, in der er die Obdachlosen der Stadt aufnahm, wenn sie nur bereit waren, ihm Modell zu stehen. 
Der Film sollte zunächst »Sisters of Mercy« genannt werden, erst nach dem Ausfall eines Financiers wird - auf der Suche nach weiteren - das Drehbuch von Pawlikowski ins Polnische übersetzt und der neue Titel gefunden. Tom Seymour vom Guardian fragt Pawlikowski 2014, ob sich der Film auf die Geschichte seiner Familie beziehe. Er antwortet: „Jeder spricht von dem Film, als ginge es vor allem um jüdisch-polnische Beziehungen. Ich möchte dieses Minenfeld nicht betreten. Für mich ist der Film darüber, was es ist, polnisch zu sein“. 
Von Terry Gross vom National Public Radio in einem Interview gefragt, was ihn zur Filmidee gebracht hatte, antwortet Pawlikowski: »Vor acht Jahren begegnete mir die Geschichte eines polnischen Priesters, der, wie meine Heldin, entdeckte, dass er jüdischer Herkunft war. Und er überlebte den Krieg in einem Kloster, und wuchs heran, um Priester zu werden. In seinen Dreissigern dann entdeckte er die Wahrheit über seinen Hintergrund, und versuchte, sein christliches und jüdisches Erbe zu kombinieren. Um diese Geschichte herum begann ich etwas zu entwickeln«.
Die Figur der Wanda Gruz ist tatsächlich auf eine historische Person zurückführen, der Pawlikowski als junger Mann begegnet war: »Ich begegnete einer Dame - einer überaus charmanten älteren Dame - in Oxford in den frühen 80gern. Sie war die Frau eines Professors des Wolfson College, ungefähr Mitte 70. Und sie luden mich gelegentlich für dinner und drinks in ihr Haus ein, weil es in Oxford nicht viele Polnischsprechende gab zu der Zeit. Und ich befreundete mich mit ihr, ich mochte sie, so warm, geistreich, ironisch und weltklug wie sie war. Erst zehn Jahre später hörte ich in den Nachrichten der BBC, dass die polnische Regierung die Auslieferung genau dieser Dame verlangte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie in den frühen 50gern tatsächlich eine Staatsanwältin war, die Schauprozesse führte, gegen unschuldige Leute, die lediglich, sozusagen, im Wege standen. Das war ein wenig erschreckend und rätselhaft, und ich konnte einfach nicht verstehen, wie diese sehr warmherzige, kluge, generöse ältere Frau einmal eine Staatsanwältin im Stalinismus gewesen sein konnte«. 
Es handelt sich um die 1919 in Warschau als Fajga Mindla (Felicia) Danielak geborene, 2008 in Oxford verstorbene Helena Wolińska-Brus. Den Name Helena Wolińska erwarb sie mit falschen Papieren, die ihr die Flucht aus dem Ghetto ermöglichten, sie behielt ihn bei. Von der Gwardia Ludowa gerettet, kämpfte sie als junge Frau in dieser kommunistischen und überwiegend Moskautreuen Organisation, um dann im Nachkriegspolen in der Justiz (bis zum Rang eines Oberstleutnant) aufzusteigen und an einer Anzahl von Schauprozessen gegen Widerstandskämpfer der bürgerlichen Armia Krajowa massgeblich beteiligt zu sein. Nachdem sie 1956 bereits ihre Funktionen verloren hatte, wurde sie in der antisemitischen Welle von 1968 auch aus der Partei ausgeschlossen. Mit ihrem Mann ging sie 1971, wie der junge Pawlikowski, ins britische Exil, wo sie, nachdem Großbritannien drei Auslieferungsanträge der polnischen Regierung abgelehnt hatte, auch starb. Anne Applebaum beschreibt ihr Leben in Oxford als sehr zurückhaltend, beinahe versteckt: im Gegensatz zu ihrem Mann, der eine bekannte Persönlichkeit war, hätte sie kaum Einladungen angenommen, kaum jemand eingeladen. 

Pawlikowski befindet sich, als er die Filmidee zu entwickeln beginnt, in einer schweren persönlichen Krise, sein Frau war 2006 an Krebs verstorben, er durchlebt die Dramatik des Exils des jungen Mannes, der er einmal war, erneut. Er realisiert einen Film, The Woman in the 5th (2011), der das Scheitern einer Versöhnung wie einer neuen Liebe für einen amerikanischen Schriftsteller in Paris zum Thema hat, dem kaum ein Kritiker etwas abgewinnen kann.  


2/ DER FILM


Am Ende des Films geht Anna, die nun auch Ida ist, mit sicherem Schritt und erneut im klösterlichen Ornat zum Klang der Kantate Bachs Ich rufe zu dir Jesus …erneut, wie wir annehmen dürfen, auf das Kloster zu, in dem ihr Leben gerettet wurde. Im Verlauf der Handlung hat Anna etwas entdeckt, das der historischen Wahrheit ihrer Herkunft ungefähr entsprechen könnte, und findet sich, nachdem sie, nicht ohne ihre Tante, eine enorme Courage, Fragen zu stellen, entwickelt hat, und nachdem sie ihre Eltern beerdigen konnte, ohne Zeugen, die diese Geschichte stützen könnten, wieder. Wanda nahm sich das Leben, der Mörder, oder der, der den Mord gestanden hat, lässt sich Stillschweigen und Verzicht auf alle künftigen Ansprüche versprechen. Ist all dies’ überhaupt geschehen? Was ist überhaupt geschehen? 

Die Mutter Oberin insistiert, dass Anna sich auf diese Reise zu ihrer Tante begeben soll, bevor sie das klösterliche Gelübde ablegen wird, diese Tante lässt sie nur widerstrebend in ihr Leben, holt sie jedoch vom Busbahnhof zurück, um mit ihr das Geheimnis ihrer Herkunft aufzudecken. Es ist der Weg der Übertragung, der für beide möglich macht, die Existenz der Getöteten anzuerkennen, »Hatte ich einen Bruder?« fragt Ida, als sie auf einem Photo den - wie wir später wissen - Sohn von Wanda erblickt. Für Wanda kehrt mit der Rückkehr ihrer Nichte in ihr Leben dessen Mangelhaftigkeit, dessen Mangel an Sinn wieder ins Bewusstsein, in der erwachenden Vitalität von Ida erscheint etwas, das für Wanda vielleicht unerreichbar war. Und einmal auf der Spur, ist sie sowieso zu klug, um etwas anderes als ein grausames Geheimnis hinter dem Schicksal des Paares Lebenstein und ihres ihnen anvertrauten Sohnes zu vermuten. Sie spricht die Sprache, die das Schweigen um die Verstrickung in die Vernichtung kurz zu unterbrechen in der Lage ist. Das Paar Wanda–Ida kann einer existentiellen Frage nachgehen, indem die eine bei der anderen etwas substituiert. Als Wanda einmal, nach der Nacht im Polizeigewahrsam, über sich spricht, »jetzt bin ich nichts mehr«, scheint sie mir nicht nur von der Zeit zu sprechen, als man Angst vor ihr hatte, sondern auch von der Spur der Angst, die im eigenen Namen aufzunehmen ihr nicht mehr gelingen soll. Mit ihrer Defenestration, dem so beiläufigen Suizid zur Musik von Mozarts Jupitersinfonie, seiner letzten Sinfonie, verlässt Wanda auch den gemeinsamen Raum mit ihrer Nichte, in dem mit der wechselseitigen Identifikation so etwas wie Anlehnung möglich wurde, ein gemeinsamer Raum, so wirkmächtig, dass Ida/Anna ihn für eine Nacht nach der Beerdigung von Wanda noch bewohnen kann. Ein sozialistisches, kein jüdisches Begräbnis. Und beinahe gibt es wirklich keine Zeugen mehr, wäre da nicht der Saxophonist mit ein wenig Zigeunerblut, der dieses Mädchen, Ida, wenn auch vielleicht nicht die ganze Geschichte, sehr wohl wahrgenommen hat. Und die Frage, ob die jüdische Identität im Polen von 1962 lebbar sein kann.

3/ PSYCHOANALYSE


Was öffnet die Frage, die der eigenen Existenz gilt? Was ermöglicht, dieser Wahrheit nachzugehen? In der polnischen Gesellschaft, wie sie der Film schildert, scheint gelegentlich auf, wie da etwas zwischen Verdrängung und Verleugnung oszilliert: »Eskimos«, »Zigeunerblut«, solange es nicht persönlich wird, könnte man hinzufügen. Für unsere Heldinnen ist die Frage hingegen mit Existenz und Nichtexistenz verbunden. 
»Die Verleugnung bringt eine imaginäre, traumatisierende Wahrnehmung ins Spiel, die es von der Verneinung zu unterscheiden gilt, welche sich im symbolischen Feld situiert und an der Verdrängung und ihrer partiellen Aufhebung beteiligt ist«, so Andres. Die Verleugnung ist weitgehend so zu denken, wie Freud für die Psychose formuliert hat, (in »Neurose und Psychose«): »daß der Wahn wie ein aufgesetzter Fleck dort gefunden wird, wo ursprünglich ein Einriß in der Beziehung des Ichs zur Außenwelt entstanden war« (1924, XIII, 327). »In der Psychose ist die Realität verleugnet, während in der Neurose die Anforderungen des Es der Verdrängung unterliegen« (Andres). Dabei handelt es sich aber um eine Denkrealität, nicht aber eine äußere Realität. Wie Freud bereits in den »Drei Abhandlungen…« ausführt, ist das wesentlich Ausgeblendete eben das Element der Kastration, die anhaltende Verleugnung der Penislosigkeit des anderen Geschlechtes. Das energische Festhalten daran, etwa im Fetischismus, stellt eine kontinuierliche Ausblendung eines Teiles der äusseren Realität dar, oder, wie Andres schreibt: »einen Mechanismus bezüglich der Wahrnehmung der sexuellen Ordnung verleugnet durch einen Denkprozess«.  Und Andres weiter: »wenn das mütterliche Begehren keinen Platz für den symbolischen Vater lässt, damit für das Gesetz des Begehrens selbst, das sich auf das Begehren des Begehrens des Anderen stützt, versteht es sich, dass die sexuelle Differenz den Wert einer Unmöglichkeit annimmt«. 
Im Film ist es die Forderung der Mutter Oberin, dass Anna diese Reise machen soll, die die Wiederholung des in Bezug auf die Identität von Anna leeren Rituals des Klosterlebens durchbricht. Das klösterliche Gelübde, die Professio, ist ja gerade das Versprechen, sich nunmehr ganz in den Dienst der klösterlichen Gemeinschaft zu stellen und auf die Ausübung individueller Rechte im Einzelnen zu verzichten.
Die Intervention der Oberin bringt also etwas in Gang, was die beiden Heldinnen schließlich in die Lage versetzen wird, den persönlichen Spuren nachzugehen, eine persönliche Forderung zu stellen. Man könnte formulieren, dass beide eine Verleugnung der symbolischen Kastration zumindest für eine entscheidende Weile unterbrechen: die symbolische Kastration ist hier zunächst einfach die Tatsache der Vernichtung, der Ermordung der Eltern und des Sohnes von Wanda, die zunächst gar nicht mehr als eine besondere Überschreitung erscheint, sondern sich in die allgemeine Judenvernichtung einreiht. Nur unter dieser Voraussetzung ist zu erklären, wie der Tod dieser drei bislang unhinterfragt blieb, und man gleichzeitig vermuten könnte, was da traumatisch wirksam blieb: für Anna konnte es wohlmöglich keine hinreichende Sicherheit geben, dass zumindest die unmittelbare Gefahr - einer nationalsozialistischen unmittelbaren Jagd auf die jüdische Bevölkerung - wirklich vorbei ist, hatte doch die Aufnahme ins Kloster ihr mit der Rettung vor der Verfolgung auch die Möglichkeit einer Frage versperrt. Für Wanda wiederum wird der persönliche Verlust unberührbar gewesen sein, nicht zu allererst, weil er die Legitimität der kommunistischen Wiedererweckung der polnischen Nation in Frage zu stellen in der Lage wäre (dies aber zweifellos auch), sondern in unserem Kontext zu allererst, weil er eine fetischhafte Tarnung von partikulierer Gewalt als legitime Gegengewalt, und damit die Ermächtigung im Leben von Wanda zusammenbrechen lassen könnte. 
Die Kluft zwischen dem Realen der Shoa und der Ortlosigkeit der Überlebenden angesichts der Nichtbenennung dessen, was geschehen ist, vermag immer wieder, die Anschauung der Welt zu devitalisieren: »Damit sich ein Bild als solches vom Wirklichen entfaltet, muss es von dem unterstützt werden, was im eigenen Körper fehlt, oder durch imaginäre Kastration« (Andres). 


Der Schnee, der zu Beginn des Filmes gnädig die Landschaft bedeckt, ist am Ende geschmolzen, kaum etwas verstärkt das Licht, das inzwischen auf die Geschichte gefallen ist: und welches Licht: das Licht von Lis, also ein Lys (dänisch), oder ist vielmehr die Frage, ob er sly (schlau) genug sein wird, (Ida nicht aufzugeben). Oder bleiben am Ende nur les lis, die weißen Lilien, die man jungen Mädchen nach der Mode der Zeit auf das Grab zu legen pflegte?


Heiko Mussehl.
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 (1) Gespräch mit Tom Seymour für The Guardian, 18/09/14
 (2) Marta Jazowska in culture.pl, 30/11/12
 (3) Tom Seymour, ebenda
 (4) ‚Ida‘ Director Made Film To ‚Recover The Poland‘ Of His Childhood, Interview with Terry Gross, NPR, 12/02/15
 (5) Anne Appelbaum: The Three Lives Of Helena Brus. A Polish Communist, Resident In Britain, Was Accused Of Stalinist-Era War Crimes. Her Extradition Became A Matter For British Justice. anneapplebaum.com, 06/12/98
 (6) M. Andrès, dans: L'apport freudien. Éléments…, p. 122-123
(7) Ich verdanke den Impuls für diesen Text insbesondere dem Artikel von Iva Andreis: Ida, de Pawel Pawlikowski, in: Jean-Jacques Moscovitz (sur la direction de): Violences en cours. Psychoanalyse Cinéma Politique. érès, Toulouse, 2017, S. 213-224

Vortrag #77 im Rahmen der Reihe Film + Psychoanalyse im Kino Brotfabrik Berlin 



Samstag, 21. November 2015

de Berlin à Paris, 14 novembre 2015

La violence, même à distance, a suscité un stade psychique chez moi comme le dernière fois à Jérusalem: fragilisé et en connexion ( connecté / relié au monde extérieur, ‘attacks on linking’, comme l'écrit Bion, où le sens de la réalité n’est pas plus allié sûrement avec l’affectivité. À Jérusalem, lorsque je demandais quelque chose à une personne inconnue, elle réagissait  après un moment de pause, comme pour retrouver la réalité, et après se montrait très aimable . 
Est-ce possible que des personnes sur l’impression du terrorisme commencent à avoir peur de leur propre agressions (les agressions constructives pour réguler l’identité), et ainsi aussi peur de leur individualité? 
Un rêve que j’ai eu après un attentat là-bas dont je me souviens encore: je sortais d'une maison, et dans la rue, je pensais immédiatement : “chaque personne a besoin d'en embrasser une autre quelque fois et d’être embrassée quelquefois”. En même temps, j’ai peur si je tentais  cela, qu'on puisse me confondre avec un assaillant sur le point d'attaquer au couteau. je suis glacé/pétrifié de peur, un temps, jusqu’à ce que mon regard tombe sur une affiche dans le style des années soixante, avec un titre comme “12 positions légitimes d’embrasser” et des dessins avec les positions, comme à l'image des affiches de protection civile lors d’une guerre atomique. Je suis soulagé, mais pas  vraiment. 

Dans Le Monde du week-end dernier (07/11/15), une conversation/interview avec Svetlana Alexievitch:
“Les gens étaient doubles, à l’époque. Ils étaient prêts à faire la queue pour acheter des recueils de poèmes d’Anna Akhmatova. Mais c’étaient les mêmes qui écrivaient des dénonciations, qui étaient surveillants dans les camps.”
Les assaillants de ce matin, est--ce qu'ils étaient doubles, eux aussi?

Mais, peut-on penser que ça puisse marcher sans dédoublement?


Berlin et Ginosar, 26/11/15 (Merci á Chantal Niebisch)



KOMMT ÜBERHAUPT NICHT IN FRAGE


„Die Phrase „Kommt überhaupt gar nicht in Frage“, die im Berlin der zwanziger Jahre aufgekommen sein dürfte,ist potentiell schon die Machtergreifung. Denn sie prätendiert, dass der private Wille, gestützt manchmal auf wirkliche Verfügungsrechte, meist auf bloße Frechheit, unmittelbar die objektive Notwendigkeit darstelle, die keinen Einspruch zuläßt. Im Grunde ist es die Weigerung des bankerotten Verhandlungspartners, dem andern einen Pfennig zu zahlen, im stolzen Bewußtsein, dass es bei ihm ja doch nichts mehr zu holen gibt. Der Trick des betrügerischen Advokaten tut sich großmäulig als heldische Unbeugsamkeit auf: sprachliche Formel der Ursupation. Solcher Bluff definiert gleichermaßen den Erfolg und den Sturz des Nationalsozialismus.“   (Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschædigten Leben, Suhrkamp, Frankfurt, 1951/ 2001, S. 199f.)   


Sonntag, 4. August 2013

Werner Melchior testifying at the Eichmann trial on the rescue of the Danish Jewry [Deborah E. Lipstadt: The Eichmann Trial]


„There was little relief from the familiar story line: an overwhelmed Jewish population poised against an Eichmann-devised deportation system fully committed to ensnaring every Jew. Then into this unrelenting saga of grief and terror came a brief moment of emotional respite. Werner Melchior, son of Denmark‘s chief rabbi, described the rescue of Danish Jewry. He related how bishops, ambulance drivers, fishermen, housewives, neighbours, and strangers facilitated the escape of these seven thousand Jews–almost the entire Danish Jewish community–to Sweden. Shortly before being ferried across the strait, Melchior, demonstrating what some might consider an aggravated sense of responsibility, went to the university to return library books. At the entrance, students whom he knew in passing stopped him. ””In case there is anything at all which you think we can reasonably do…you can get in touch with us.”” This, Melchior testified, happened not once but twice in the space of ten minutes. ””During the preceding three and a half years of the occupation, there was not a single moment when the population was united so closely together”” as during the rescue of the Jews. (After this rescue it was Eichmann who was dispatched to Denmark to determine precisely how this had happened and to prevent it from occurring again someplace else.) At last, into this Jerusalem courtroom, had come the uplift for which so many had thirsted. Haim Gouri described it as ””artificial respiration.”” Jews in the courtroom were reminded that they had not been completely abandoned. One woman was weeping. Asked why she was crying now: ””I cry whenever someone is kind to me.””„


[Deborah E. Lipstadt: The Eichmann Trial, New York, Schocken, 2011, pp. 86-87]

Dienstag, 25. Juni 2013

Achim Perner ✝ 19. Juni 2013

„Es ist das Privileg des Menschen, das An-sich des Realen, des schieren
Seins, in ein Für-mich zu verwandeln. Das Reale ist ihm dadurch
unerkennbar geworden, aber entgehen kann er ihm nicht. Das Reale ist das
Anstößige.“ (Achim Perner)

Wir trauern um

Achim Perner

der am 19. Juni 2013 nach einem langen mutigen Kampf mit seinem
„Feind“ - dem Krebs – im Alter von 60 Jahren gestorben ist.

Achim Perner - ein Gelehrter – blieb mit seiner großen geistigen Kraft
und Menschlichkeit bewusst außerhalb der akademischen Bahnen. Als
außergewöhnlich profunder Kenner der psychoanalytischen, philosophischen
und geisteswissenschaftlichen Schriften, sowie der Kunst und der Musik, war
er getrieben vom Drang, die Dinge, die vom Realen zeugen, im Benennen
korrekt zu erfassen. Deshalb ertrug er keine Phrasen, war unerbittlich
präzise und suchte diese Präzision auch im Gespräch mit Kollegen und
Freunden. Davon haben viele profitiert, auch wenn mancher Austausch nicht
immer einfach war. Seine Aufsätze und Vorträge werden jedoch bleiben.

Achim Perner war nicht nur ein „Forscher“ und Lehrer der Psychoanalyse,
ein führender Autor der Psychoanalytischen Sozialarbeit, sondern
gleichzeitig ein begnadeter Praktiker. Als Pädagoge wusste er sein Wissen
einzusetzen, um den zumeist jungen Menschen am Rande ihres
Scheiterns und deren oft verzweifelten Eltern, Erziehern und Lehrern zu
helfen. Gestützt auf die Psychoanalyse Lacans und durch eine kritische
Aufnahme einer großen Palette anderer Theorien und Techniken, war er vor
allem ein Arbeiter im Sozialen. Unermüdlich war er bestrebt mit seinem
fachlichen Können autistische, psychotische, behinderte, deviante und
sexuell missbrauchte Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihrer Not ebenso
aufzufangen, wie Sexualstraftäter und Menschen, die nach schweren
Gewalttaten in Haft waren.

Achim Perner fand in den unterschiedlichsten Situationen im rechten
Augenblick Worte, die dem innersten Sein sensibel entsprachen, da er selbst
die Härten des Lebens bereits als Kind schmerzlich erfahren hatte.

In tiefer Dankbarkeit verabschieden sich

Kollegen und Freunde



Die Trauerfeier und anschließende Beisetzung findet am Freitag, dem 5.
Juli um 9:00 Uhr in Berlin auf dem Friedhof an der Berliner Straße in
Wilmersdorf statt.

Montag, 24. Juni 2013

Die extime Oberfläche der á-la-mode – die Insistenz der Brigitte Reimann





Ich habe die Photographie in diesem Blog auf s/w umgestellt, plötzlich Sehnsucht nach der F.A.Z., die am 1. März 2007 zu meinem Bedauern damit begonnen hatte, „die Farbrezeptoren ihrer Netzhaut zu trainieren“, so wie sie vorher war.

Ich lese nun zum zweiten Mal Brigitte Reimanns Tagebücher aus der Hoy(erswerda)-Zeit, und in diesem Durchgang fällt mir die verzweifelte und aggressive Note in ihrer Produktivität zum ersten Mal deutlich auf – nicht daß es an solchen Momenten inhaltlich ermangeln würde, wäre er nicht schon auf der Welt gewesen, hätte man den Terminus man-eater für sie erfinden müssen, aber bislang lösten diese Momente wohl auch in mir aus, was sie in vielen Männern ausgelöst haben mag – einem wird es gelingen, diese radikale Freiheit, sich zu nehmen und sich zu trennen, langfristig festzuhalten, zu befriedigen und so befriedigt zu werden. Schwer, als Gegenüber da nicht vom Schwindel befallen zu werden, wo sie so ganz beim Anderen sein konnte:

Heute morgen ist Daniel aus dem Krankenhaus zurückgekommen, noch ein bißchen matt und mit schlimmen Rückenschmerzen. Gestern hatte er mir gesagt, er sei gründlich untersucht worden, sein Herz und seine Lunge seien gesund. Als ich heute früh aufwachte, dachte ich froh und erleichtert: Gott sei Dank, mein Herz und meine Lunge sind gesund. Viel später erst wurde mir bewußt, daß es Daniel betraf.“ (Ich bedaure nichts, S.195)

(Foto: Allenby/ HaCarmel in Tel Aviv)




Tel-Aviv, Allenby/ HaCarmel


Dienstag, 15. Januar 2013

Søren Kierkegaard 1813 - 2013


Berlin d. 10. Mai 1843
Am Tag nach meiner Ankunft ging es mir so schlecht, dass ich beinahe in die Knie gegangen wäre.
In Stralsund wäre ich beinahe verrückt geworden, als ich ein junges Mädchen oben Fortepiano spielen hörte, unter anderem auch Webers letzten Walzer. Letztes Mal, als ich in Berlin war, war dies das erste Stück, das mich im Thiergarten empfing, vorgetragen von einem Blinden, der auf der Harfe spielte.…“


„Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss.“


[Ausgewählte Journale, Band 1, Berlin: De Gruyter, 2013]




Hanns Zischler, Heiko Schulze und Markus Kleinert (http://www2.uni-frankfurt.de/42806719/kierkegaard-edition) am 15. Januar 2013 im Fælleshus der Nordischen Botschaften in Berlin. 

Freitag, 13. April 2012

nach Søren Ulrik Thomsen


nach Søren Ulrik Thomsen, für Gundula Schulze-Eldowy.

Liebend einst so die Traumworte
meine apokryphen Lexika ein Halt
von dem ich auszog zu den Ufern
der Weichsel, Donau und Moldau
nur um den schönsten der Namen zu finden.
Zerzaust und besonnen brachte ich zurück:
jenes Gefäß für des Alphabets Sturzflut.

Jeden Brief der mir zufällt wollte ich deuten,
bis ich sah:
Des Tageslichts Zeichen sind am schwersten zu lesen.
Die Nachtschatten laß’ dort sein,
wo der wilde Vogel fliegt, ohnehin.
Setze dich ans Ufer und sieh, das erleichtert
oder drehe Dich einmal um im Gehen,
im Rücken: der Spiegel der Welt:
eine Anzahl Sonette auf Seen.


(meine Nachdichtung)

Pia Tafdrup, Over Vandet går jeg.

Én tilstand er fælles for både mænd og kvinder, når det gælder seksualitet og kunst: Dét øjeblik, hvor integritet og personlighed brydes ned. I seksualiteten, når man nærmer sig dyret, i kunsten dét sted, hvor det skrivende jeg gennemtrænges og fyldes helt, der hvor jeg'et er uden ansigt.

Søren Ulrik Thomsen


Nicht mit unserer Einwilligung sind wir geboren,
und Sterben ergibt keinen Sinn.
Es ist ganz überflüssig
aber streng notwendig
im Eis eine Wunde offenzuhalten,
sich zu verkriechen und einander zu küssen - 
die Leuchte des Raumschiffs um den Erdball kreisen
und die Handschrift übers Papier laufen zu lassen
in einer Geste auf Lebenshöhe.


(aus dem Dänischen von Hanns Grössel, courtesy of F.A.Z. vom Tage)

Samstag, 31. März 2012

Uwe Johnson, Jahrestage

"Es war Gesine, die am nächsten Morgen das Telefon hörte. Es war nicht der Apparat, der der an das Binnennetz des Wasserstraßenamtes angeschlossen war, sondern der von der Reichspost. Sie kam eben in die Tür des Büros, als Martin Niebuhr den Hörer an Cresspahl weitergab. Es war gegen sechs Uhr morgens am 10. November. Meine Mutter war schon eine Stunde lang tot.

(Jahrestage, Ffm. 2000, S. 652)

Montag, 26. März 2012

Anne-Lise Stern, Biographie

  • SCHRIFTEN
  • Un lapsus de SS. Nouvel Observateur vom 3.6.1969 + in Stern, Le savoir-déporté, 2004
  • Passe - du camp chez Lacan. Passe - Vom Lager zu Lacan. In J. Prasse und C.-D. Rath (Hg.): Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein. Freiburg 1994, 203-216
  • "Mending" Auschwitz, through psychoanalysis? Strategies. Journal of theory, culture
  • and politics Nr. 8, 1995/96
  • La France hospitalière - Drancy avenir. Essaim Nr. 1, 1998, 139-149
  • Früher mal ein deutsches Kind...passée du camp chez Lacan. Versuch einer Hinübersetzung. Berliner Brief Nr. 2, 1999
  • Point de suture [Über den Film "La vie est belle" von R. Benigni]. Carnets de l'Ecole de psychanalyse Sigmund Freud Nr. 21/22, 1999
  • Psychanalyste après Auschwitz. Essaim Nr. 4, 1999
  • Le savoir-déporté. Camps, histoire, psychanalyse. Paris 2004; 2007

  • LITERATUR UND LINKS
  • Broudic, Jean-Yves: Naître après. À propos du livre: "Le savoir-déporté. Camps, Histoire, Psychanalyse", par Anne-Lise Stern. freud-lacan.com 2007 (9.4.2008)
  • Dorland, Michael: Psychoanalysis after Auschwitz? The "Deported Knowledge" of Anne-Lise Stern. Other Voices 2 (3), 2005 (30.8.2010)
  • Fresco, Nadine, und Martine Leibovici: Entendre. Une vie à l'œuvre. In Anne-Lise Stern: Le savoir-déporté. Paris 2004
  • Millot, Catherine: Présentation du livre d'Anne-Lise Stern: Le savoir-déporté. Essaim Nr. 13, 2004, 179-184
  • Roudinesco, Elisabeth: Histoire de la psychanalyse en France, Bd. 2: 1925-1985. Paris 1986; 1994 [Jacques Lacan & Co. A History of Psychoanalysis in France, 1925-1985. Chicago 1990]

  • FOTO aus Stern, Le savoir-déporté, 2007
Quelle: http://www.psychoanalytikerinnen.de/frankreich_biografien.html#Stern

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Dienstag, 6. März 2012

Eric Laurent,Lost in Cognition

Eric Laurent,Lost in Cognition, p. 10:
„Certain psychanalyste encouragent leurs collègues á suivre la même voie que la psychologie. Il y aurait de la place, dans la diversité des modèles de cognition pour les processus inconscients freudienne. Certains pensent que le temps est venu de la traduction des processus subjectifs en termes de réseau neuronal. Telle est l'erreur de théoricien du cognitivisme, mais aussi celledes partisans de la psychanalyse cognitivist, qui pensent que les neuroscience ne feront en fait que confirmer les découvertes freudienne et lacanienne.

Lacan, Sem. 17

Heben wir unterdes hervor, daß in der Struktur des sogenannten Diskurses des Analytikers dieser, Sie sehen es, zum Subjekt sagt: »Nur zu, sagen Sie alles, was Ihnen durch den Kopf geht, und sei es auch noch so gespalten, und bewiese es auch noch so offensichtlich, daß Sie entweder nicht denken oder [123] überhaupt nichts sind, das geht, was Sie produzieren, wird immer zulässig sein«.
Seltsam. Seltsam aus Gründen, die wir zu bestimmen haben werden, die wir aber schon jetzt skizzieren können.
Auf der oberen Zeile der Struktur des Diskurses des Herrn haben Sie eine grundlegende Beziehung sehen können, die, um uns rasch auszudrücken, diejenige ist, die das Band des Herrn mit dem Knecht ausmacht, vermittels dessen, Hegel dixit, der Knecht ihm mit der Zeit seine Wahrheit beweisen wird – vermittels dessen auch, Marx dixit, er die ganze Zeit damit beschäftigt sein wird, seine Mehrlust zu schüren.
Warum schuldet er diese Mehrlust dem Herrn? Das genau ist getarnt. Was auf der Ebene von Marx getarnt ist, das ist, daß der Herr, dem diese Mehrlust geschuldet ist, auf alles verzichtet hat, und zuvörderst aufs Genießen, weil er sich dem Tod ausgesetzt hat und weil er in dieser Stellung, die Hegel klar artikuliert hat, ganz fixiert bleibt. Zweifellos hat er den Knecht der Verfügung über seinen Körper beraubt [privé], das aber ist ein Nichts, denn er hat ihm das Genießen gelassen.
Wie gerät das Genießen in den Zugriff des Herrn?